
Lebensherz
Wolfgang Schulte parkt den Mercedes auf dem kleinen, mit Kastanienbäumen gesäumten Platz. Bis zur Brücke, die hier über die Modau führt, sind es keine einhundert Meter. Zwei Streifenwagen stehen davor, das blinkende Blaulicht taucht den gesamten Platz in eine Art psychedelisches Flimmern.
Mathilde Dubois, die neben Schulte auf dem Beifahrersitz hockt, atmet tief ein, sie weiß, dass es wie ein Seufzen klingt und ärgert sich. Muss ja nicht jeder mitbekommen, wie schwer ihr das hier gerade fällt. Seit heute Morgen ist sie nach zwei Jahren Pause wieder im Dienst. Und jetzt wird sie am selben Tag zu einem Mord gerufen. Und das mitten in der Nacht. Sie löst den Sicherheitsgurt, öffnet die Tür. Eiskalte Luft strömt sofort in den Wagen. Frostnadeln überziehen den Rasenstreifen am Ufer des kleinen Flüsschens. Mathilde mag den Winter nicht, zu kalt und nass in dieser Gegend.
Schulte ist schon ausgestiegen. In dem flackernden Blaulicht sehen seine roten lockigen Haare lila aus. Mathilde war am Morgen, als sie ihm vorgestellt wurde, beeindruckt. Er wirkt wie ein Lausbub, sehr schlank mit kecken Sommersprossen im Gesicht. Er kann kaum dreißig sein. Mathilde wundert sich, wie er es schon zum Oberkommissar geschafft hat.
»Gehen wir!« Ohne auf Mathilde zu warten, stapft Schulte in Richtung Brücke davon.
Die aufgestellten Scheinwerfer erhellen das mit Bändern abgesperrte Gebiet. Mathilde gewahrt eine Plane, die in der Dunkelheit leuchtet, direkt am schräg hinunterführenden Ufer. Sie folgt Schulte, nähert sich langsam dem Absperrband, das von zwei Uniformierten bewacht wird. Trotz der späten Stunde stehen Menschen am anderen Ende der Brücke. Schaulustige um diese Zeit. Mathilde wundert sich, wie leicht doch der Schlaf von einigen Menschen ist, dass sie sofort alles mitbekommen.
Die beiden Polizisten heben das Absperrband, als Schulte davorsteht, er schlüpft hindurch. Mathilde folgt ihm.
»Hallo Wolfgang«, der Größere der beiden klopft Schulte auf den Rücken, eine vertraute Geste, »Mist, dass die Toten hier draußen so oft nachts gefunden werden.«
»Ja, Manfred, ich wäre jetzt auch lieber in meinem Bett. Vor allem bei dieser Kälte. Das ist übrigens Hauptkommissarin Mathilde Dubois, meine …«, er hält kurz inne, fährt sich durch die Locken, »meine neue Chefin.«
Mathilde nickt den beiden Polizisten zu. Leichter Ärger kriecht in ihr hoch. Schultes Äußerung klang nicht gerade freundlich. Am Morgen schon, als Eberhard Bär, Leiter des Dezernates, sie den Kollegen vorgestellt hat, spürte sie deutlich Schultes Reserviertheit. Klar, er ist sauer, dass man sie, die Neue, ihm vor die Nase gesetzt hat. Als Teamchefin quasi, so hat Bär sich ausgedrückt. Für Schulte muss es sich seltsam anfühlen, dass sie nach zwei Jahren Berufspause jetzt gleich so hoch einsteigt. Er ist sehr reserviert gewesen, ganz im Gegensatz zu Julia Sander, die sie herzlich begrüßt hat. Die junge Frau ist wohl seit zwei Jahren Kommissarin und seit einem Jahr hier im K 11 tätig, nachdem sie vorher bei der Sitte war. Mathilde holt tief Luft, schiebt die Gedanken beiseite. Es gilt, ein Tötungsdelikt aufzuklären, denn dass es sich um äußere Gewaltanwendung handelt, hat Bär vorhin unmissverständlich klargemacht. Angeblich hat das Oskar Wedel, Chef der Rechtsmedizin, in einem Telefonanruf bestätigt. Ob er das ist? Der Mann mit Glatze, der auf der Plane kniet, mit dem Rücken die Leiche verdeckt?
Mathilde greift in die Tasche ihrer Daunenjacke, fühlt den glatten Stein, fährt mit dem Daumen die Rundungen nach, umschließt ihn dann mit der Hand. Die Finger erwärmen sich. Sie spürt ein Pulsieren, das sich von der Handinnenfläche bis in die Fingerspitzen ausbreitet. Vor drei Jahren hat ihr Mann Bernard zwei fast identische Steine am Atlantik gefunden. Abends, bei einem Strandspaziergang in ihrem letzten Urlaub. Der Mond warf sein Licht genau auf diese beiden Steine, die wie platziert in einem Dünengrasbüschel lagen. Weiß mit rostroten feinen Linien. Sie nahmen die Steine mit, jeder trug seinen immer bei sich.
»Sie bringen Glück«, sagte Bernard, »schau, wenn wir sie eng aneinanderlegen, bilden die Linien ein Herz. Ein Lebensherz.« Das mit dem Herz stimmt, das mit dem Glück nicht. Vor zwei Jahren fuhr Bernard seinen Toyota gegen einen Baum, löschte damit nicht nur sein eigenes Leben aus, sondern auch das von Sascha, ihrem gemeinsamen Sohn. Dennoch trägt Mathilde ihren Stein immer mit sich. Bernards liegt auf dem Nachttisch. Und wenn sie vorm Schlafengehen ihren direkt daneben legt, sieht man das rötliche Herz. »Meine Verpflichtung zum Leben«, jeden Abend berührt Mathilde die Steine und fühlt sich Bernard sehr nahe.
© Enya Kummer

Schattenkind
Nykes Todestag jährte sich zum fünfzehnten Mal. Noch war der Schatten da, begleitete Sara vor allem dann, wenn der Tag sich neigte. Aber er war sanfter geworden.
Wie jedes Jahr saß sie auf der Bank neben Nykes Grab. Der Spätherbst tauchte die Umgebung in ein warmes Licht, die Bäume zeigten sich in prachtvoller Färbung. Ab und an löste sich ein Blatt vom Ast und segelte sacht zu Boden.
Sara bat nicht mehr um Verzeihung, dass sie als Kind gewünscht hatte, Nyke möge sterben, erzählte nicht mehr von ihrer Verzweiflung, als ihr Wunsch scheinbar wahr wurde.
Nykes Krankheit hatte fünf Jahre gedauert, Jahre, in denen Sara im Schatten ihrer Schwester gelebt hatte. Die Sorge der Eltern, deren Bangen, die Aufmerksamkeit hatten dem kranken Kind gehört.
Sara litt still, ertrug die Abwesenheit der Eltern, die in die weit entfernte Klinik fuhren, wo Nyke um ihr Leben kämpfte.
Und als die Schwester starb, kroch der Schatten in Sara hinein und lebte dort als Schattenkind weiter. Wenn in den meist wachen Nächten sie der Schlaf doch übermannte, war er von dunklen Träumen durchzogen.
Viele Therapien waren nötig, um die tiefen Ursachen von Saras Depression und Schuldgefühlen aufzuspüren. Schritt für Schritt führten die Therapeuten sie zu ihrem Schattenkind.
Sara erhob sich von der Bank und legte die Hände auf den Grabstein, der von der Sonne warm geworden war. Sie schloss die Augen, sah innerlich den Schatten wachsen, spürte keine Angst mehr. Umarmte in Gedanken ihr Schattenkind. Es tat gut.
»Ich liebe dich, Nyke«, flüsterte sie.
© Enya Kummer