
Opfer, Täter und Ohnmacht
Die kleine Lala im Murmelglas steht für zahlreiche misshandelte und missbrauchte Kinder. Ihr Stiefvater Hacke symbolisiert einen der vielen Soldaten, die im Kriegseinsatz im Kosovo oder Afghanistan traumatisiert wurden.
In dieser Geschichte geht es nicht um Kinderpornographie oder Kindesmissbrauch durch Pädophile.
Wir alle kennen sie, diese ohnmächtige Wut, die uns angesichts der sich häufenden Schreckensnachrichten über missbrauchte, misshandelte oder vernachlässigte Kinder packt.
Sich damit auseinanderzusetzen, lässt einen oft an die eigenen Grenzen kommen. So ist das Verdrängen scheinbar ein probates Mittel, diese Wut und Ohnmacht nicht zu spüren.
Es genügt nicht festzustellen, dass Gewalt stärker und häufiger wird, es genügt nicht, jeden Einzelfall mit dieser Wut zu bedenken, und ein lebenslanges Wegsperren der Täter reicht anscheinend auch nicht – zumindest nicht als Prävention.
Hier geht es vor allem um das Aufzeigen einer Spirale, eines „Zirkulus’“, den die Gesellschaft mit den bisher praktizierten Methoden keinesfalls durchbrechen kann.
Warum nur, so fragen wir uns, ist das so? Es wird doch viel getan, meinen wir. Vieles ist stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Dennoch scheint es kaum zufriedenstellende Antworten zu geben.
Reaktionen und Handlungen werden oft von einer subjektiv erlebten Machtlosigkeit motiviert. Dieses Empfinden kann in beispielloser Wut gipfeln, die unter der Oberfläche brodelt und durch einen Funken in machtausübende Gewaltakte umschlägt.
Im "Murmelglas" ist es der Kosovo-Einsatz von Hacke, wodurch dieses Gärende bei ihm entfacht wird. Zu entschuldigen ist das jedoch auf keinen Fall.
Nun wird nicht jeder, der misshandelt oder psychischer/physischer Gewalt ausgesetzt war, derart traumatisiert, dass es in dieser schrecklichen Form zum Ausbruch kommt. Hier sind m.E. das subjektive Empfinden der Ohnmacht, der mangelnden sozialen Einbindung nach einem solchen Erlebnis oder der Heftigkeit und Vielzahl von Gewaltakten mit verantwortlich. Es gibt Untersuchungen, dass bei traumatischen Erlebnissen in der Kindheit wenige (zuweilen nur eine) stabile soziale Beziehungen ausreichen, um zu verhindern, dass ein solches Kind zum Täter wird. Auch spätere gesunde Beziehungen können verhindern, dass sich dieses Ohnmachtsgefühl in Gewalt entlädt. Aber es ist erwiesen, dass erlebte Gewalt in der Kindheit ein hohes Risiko birgt, selbst zum Gewalttäter zu werden, wenn erneut Ohnmacht erlebt wird. Dieses Gefühl, das in einem gärt, ist nicht nur ein individuelles Problem oder Phänomen, sondern ein gesellschaftliches, wenn man die zunehmende Gewalt und die zunehmende Ohnmacht angesichts dieser in den Fokus nimmt. Tendiert denn nicht unsere Gesellschaft dazu, Macht zu missbrauchen und aufrechtzuerhalten? Ist nicht Macht ungerecht verteilt? Wird Gewalt nicht zu etwas Normalem angesichts der Medien, wo wir sie immer passiv erleben und abstumpfen?
Keinesfalls ist dies hier ein Mitleidsappell für die Täter.
Wir sollten den Opfern viel mehr Beachtung schenken, unsere Wahrnehmung für potenzielle Opfer schulen, sensibler werden, damit derartige traumatische Erfahrungen gar nicht erst zu diesem Ohnmachtsgefühl führen, welches Täter erleben. Wir müssen uns fragen, wie wir selbst mit unserer Wut umgehen und welche Möglichkeiten des (gewaltlosen) Widerstandes wir haben.
Auch Kinder, die permanent einer subtilen psychischen/verbalen Gewalt ausgesetzt sind oder diese nur miterleben, können traumatisiert sein und haben dem nichts entgegenzusetzen.
Mitleid, Entschuldigen – NEIN! Hinterfragen –JA!
Kurz gesagt, unsere ganze Gesellschaft hat eine Mitverantwortung. Auch die, die dann erschrocken Mund und Augen aufreißen, oder sich heulend in die Ecke verkriechen und der Welt abschwören, weil sie meinen, sie hätten keinen Anteil daran, sollten mal für ein paar Minuten in sich gehen und zu sich ehrlich sein.
Unsere Aufmerksamkeit ist gefragt, wenn der kleinste Verdacht besteht.
Nicht die Täter müssen im Vordergrund stehen, sondern die Opfer. Vor allem auch die potenziellen Opfer. Gewalt wird nicht einfach aufhören, aber wir alle können unsere Kinder stark machen. Prävention heißt das Stichwort.
Widerstand gegen Gewalt kann doch nur über das Mitgefühl für andere Menschen zum Tragen kommen. Aber niemals durch den Hass auf die Täter und auch nicht durch ohnmächtige Wut, die wir verständlicherweise angesichts solcher Gräuel empfinden (müssen).
Ich denke, das Wissen darum kann schon helfen, von einem Schwarz-Weiß-Denken wegzukommen und vor allem, sich über die gesellschaftlichen Zusammenhänge Gedanken zu machen. Indem Gewalt auf den unterschiedlichsten Ebenen und in den verschiedensten sozialen Bindungen immer „normaler“ wird, werden es auch die Traumatisierungen. Wir alle machen die Gesellschaft aus, so gesehen muss das "Umdenken" auch bei uns beginnen, das Hinschauen, Kenntnis zu erlangen, sich auseinanderzusetzen, unsere Mitmenschen bewusster wahrnehmen.
Hier eine kleine Szene aus dem Roman.
Lala ist aufgebracht, als im Leistungskurs "Gemeinschaftskunde" über das Thema Strafvollzug diskutiert wird. Alle reden über Täter und wie man sie behandeln müsse.
»Ihr redet hier von Tätern, dauernd, von Strafe und vom Wegsperren, von Hilfe und was weiß ich. Und die Opfer? Ja! Täter ist nicht gleich Täter, aber das, was Opfer erleiden, ist doch immer das Gleiche. Ein Opfer ist ein Opfer, es leidet, und die Frage, warum man ihm etwas angetan hat, dürfte sich so gar nicht stellen. Wer macht sich Gedanken? Wird da auch so heftig darüber diskutiert? Was geschieht mit den Opfern? Man muss ihnen zunächst erst einmal glauben ...«
Sie hielt inne, völlig außer Atem. Dann lachte sie gequält.
»Larissa, warum sind Sie so aufgebracht?«
Huber kam langsam auf sie zu, verwundert, dass das ansonsten eher besonnene, ruhige Mädchen so außer sich war.
»Natürlich verdienen die Opfer Beachtung, aber unser heutiges Thema ist ...«
Weiter kam er nicht. Lala schnappte ihre Tasche, stieß ihren Stuhl nach hinten, dass er umfiel. »Nein, es ist kein Thema, auch nicht, dass die Mütter wegschauen, die Nachbarn, die Freunde. Ach, ihr habt ja keine Ahnung! Ihr schaut doch selbst alle weg!«
Gewalt an und Missbrauch von Kindern – Wegschauen in der Gesellschaft
Opfer müssen stärker in den Vordergrund gerückt werden. Es bewegt sich einiges, leider geschieht das nur langsam.
In Gesprächen über den Roman "Das Murmelglas" werde ich oft mit der Frage konfrontiert, warum die Mütter nichts merken oder nicht merken wollen, nicht handeln und ihre Kinder beschützen. Warum Nachbarn oder Lehrerinnen und Lehrer und andere Menschen im Umfeld der Kinder nichts bemerken oder nicht hinschauen.
Das Problem des Wegsehens der Mütter und des Ertragens durch die Kinder ist kein individuelles, sondern ein häufig verbreitetes, funktionales Problem der ganzen Familie. Solche Familien haben nicht die ihr eigentlich zugedachte Rolle inne, sondern stellen sich disfunktional dar. Hier werden Unsicherheit, Angst, Abhängigkeit gefördert. Die Ursachen liegen mehrfach in der Kindheit der Eltern, die es häufig auch nicht anders erlebt haben. Die Mütter haben oft kein starkes Selbst entwickeln können oder zu viel Verantwortung tragen müssen, die sie überfordert hat. Es geht ihnen dann darum, ein Scheinkonstrukt aufrechtzuerhalten, das ihnen vordergründig Sicherheit verleiht. Mütter sehen ihre Existenz bedroht und haben häufig keine Handlungsstrategien zur Verfügung, außer dem Bestreben, die bestehenden, nach außen intakt anmutenden Verhältnisse zu bewahren.
Zudem werden (sexuelle) Misshandlungen nicht offen in der Gesellschaft zur Sprache gebracht, verdrängt, um dem Ansehen der Familie nicht zu schaden. Das, was sich zumindest als familiärer Schonraum zeigt, würde aufgebrochen. Eine zweifelhafte Loyalität, ein rigides Moralsystem lassen jene Familien in diesem Kreislauf verharren, der von stringenten Abhängigkeiten bestimmt ist.
Auch die Kinder selbst trachten danach, die Familie als Ganzes aufrechtzuerhalten. Zuweilen sind die Rollen vertauscht. Kinder übernehmen Verantwortung für die nicht handlungsfähigen Eltern. Die zugedachten Rollen werden nicht adäquat wahrgenommen und die Kinder selbst trachten danach, der Familie Bestand zu verleihen. Hinzu kommen Scham und Ängste und das Empfinden, mitschuldig zu sein. Diese Kinder haben das Gefühl, so etwas passiere nur ihnen. Woher auch sollten sie andere Erfahrungswerte haben? Ihnen wurden nicht die nötigen Werte wie Selbstachtung und Selbstwertgefühl vermittelt. Sie sind verunsichert. Auch wenn das Jugendamt in solche Familien hineinschaut, schweigen oder leugnen die Kinder oft. Und egal, wie schlimm sich Eltern verhalten, Kinder lieben sie und sind loyal.
Dass dann die Misshandlungen auch noch im Erwachsenenalter Spuren hinterlässt werden, scheint den Grund in einer schweren Traumatisierung zu haben, die ohnmächtig macht, es gibt keine logisch vernünftigen Handlungsstrategien, wenn keine Hilfe da ist. Die Opfer stehen mit dem Rücken zur Wand.
Dies nur in Kürze, man könnte weitaus mehr dazu sagen. Weder die Gesellschaft noch die Politik beschäftigen sich ausreichend mit den tiefliegenden psychologischen Hintergründen. Die Ursachenforschung der Zusammenhänge ist m.E. lange nicht am Ende.
Es müsse „verpflichtender Teil der Aus- und Weiterbildung in allen kinder- und jugendspezifischen Berufen sein“, wie man Missbrauch erkenne und welche Handlungsoptionen sich daraus ergäben, fordert die Deutsche Kinderhilfe.
„Man braucht keine Kernphysik, um Anzeichen für Misshandlung zu erkennen.“ Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe wünscht sich eine größere Bereitschaft, bei Verdacht, Anzeige zu erstatten: „Viele Menschen scheinen zu denken, sie müssten einen hundertprozentigen Nachweis für eine Straftat erbringen. Dabei genügt es zu sagen: ,Nach bestem Wissen und Gewissen sehe ich den Verdacht auf Vernachlässigung.` Der Rest ist Aufgabe der Experten beim Jugendamt.“
Man muss wirklich tiefer in die Materie eindringen, um auch nur ansatzweise zu verstehen: das Ausharren und Schweigen der Kinder, das Wegsehen der Mütter und der anderen Personen ...